Projektdokumentation
Sommersemester 1996
Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät Gestaltung

Bearbeiter: Martin Kohlhaas

Turn Your World

- Navigation in virtuellen Umgebungen -

Projektidee

Das Projekt Turn Your World (TYW) ist eine unmittelbare Fortsetzung der vorangegangenen Projekte "platform" und "voxDesign"/1/ am atelier, virtual. Das Projekt beschäftigt sich mit dem Verhalten von Nutzern in virtuellen Umgebungen (VR), insbesondere mit Bewegung und Orientierung darin.
Turn Your World soll als hard- und softwaremäßig ausgeprägtes Interface die Erfahrung einer virtuellen Umgebung ermöglichen. Diese Umgebung soll dabei größer sein können, als es der reale Umraum vorgibt. Die Fortbewegung in der VR geschieht durch die echte Bewegung des Nutzers. Körpereigene Maßstäbe können dadurch beibehalten werden und dienen der Orientierung in der VR.

Als virtuelle Umgebung wurde eine Visualisierung des Internet erstellt, welche mit Hilfe von Turn Your World erlebt werden kann.

Technische Voraussetzungen

Für das Projekt stand die technische Ausstattung des atelier, virtual zur Verfügung. Diese beinhaltet die "platform" als physische Umgebung für VR-Anwendungen, eine Silicon Graphics Workstation (Crimson VGXT), ein magnetisches Trackingsystem (Polhemus Fastrak), sowie ein Head-Mounted-Display (HMD)(Virtual Research EyeGen4) und einem Polhemus Stylus als Interaktionsgeräte.

Navigation

Unter Navigation möchte ich zwei Aspekte zusammenfassen. Das ist zum einen die Bewegung im Raum, zum anderen die Orientierung darin. Unter Bewegung verstehe ich die Veränderung des eigenen Standpunktes in einer räumlichen Situation. Unter Orientierung, die Fähigkeit, diesen Standpunkt im Verhältnis zur Umgebung einschätzen zu können.

Das Problem der Bewegung und Orientierung besteht in jeder dreidimensionalen Umgebung. In unserer Welt bewegen wir und entweder selbstständig oder mit Hilfe von Geräten (Flugzeug, Auto, Fahrrad, Rolltreppe, etc.) fort. Damit können beliebige Entfernungen zurückgelegt werden. Wir orientieren uns dabei anhand der Wahrnehmung unserer eigenen Bewegungen in Relation zum Außenraum (vor mir, hinter mir, ..., oben , unten) oder wiederum über Hilfsmittel und Geräte (Schild, Karte, Beschreibung, Kompass, Leuchtturm). Seit dreidimensionale Umgebungen mit Hilfe von Computern erzeugt werden können, gibt es diese Probleme auch dort. Hier gibt es nun die Unterscheidung zwischen der Arbeit am Monitor und dem Aufenthalt in VR über HMD.

Die Bewegung in dreidimensionalen Umgebungen am Monitor erfolgt meist über Tastatur oder Maus. Spiele benutzen zusätzlich Joysticks zur Fortbewegung. Problematisch ist dabei, daß die 3D-Umgebungen über vorrangig 2D-Interaktionsgeräte erlebt werden müssen. Die Orientierung findet über die Darstellung von Ansichten , Rastern o.ä. statt /2/.

Navigationsmethaphern in VR

Die Arbeit mit virtuellen Umgebungen erfordert andere Arten des Umgangs mit Navigation, da der Nutzer nicht mehr als "Beobachter" vor dem Monitor sitzt, sondern selbst Teil des Geschehens wird. Vor der Entwicklung von TYW habe ich verschiedene VR-Anwendungen und deren Navigations- und Orientierungsemchanismen betrachtet.
Die untersuchten Anwendungen haben folgende Gemeinsamkeiten:
Die Interaktion mit dem System kann über 6DOF-Eingabegeräte /3/ gesteuert werden, die Ausgabe erfolgt über HMD. Eine prinzipielle Orientierung im System wird über eine 1:1 Positionsermittlung des Nutzers errreicht. Diese Merkmale entsprechen den Techniken, die im atelier, virtual zur Verfügung stehen. /4/
Bei den Beschreibungen der einzelnen Systeme beziehe ich mich hier nur auf die Elemente, die für die Navigation und Orientierung Bedeutung haben.

WIM - eine Entwurfsumgebung

WIM ist die Beschreibung eines Interfaces für virtuelle Umgebungen, wo ein Nutzer neben dem 1:1 Blick auf die Welt einen zweiten, miniaturisierten Blick als Gesamtschau auf die Umgebung erhält. Der Nutzer kann entweder in der großen oder der kleinen Welt navigieren oder mit Objekten interagieren. WIM wurde entwickelt, um Nutzern von VR-Systemen, die Möglichkeit zu geben, sich leicht in der virtuellen Umgebung zurechtzufinden. Oftmals sind die Gegenstände oder Orte, die wir suchen gerade hinter einer Wand oder einem anderen Objekt verborgen, so ein Ansatz der Autoren. Dem Nutzer wird für die Interaktion ein reales Clipboard und ein Tennisball mit Tracker und 2 Knöpfen. mitgegeben. /5/

Dactyl Nighmare - ein VR Spiel

In Dactyl Nightmare wird eine sehr bekannte Bewegungsmethapher für VR-Systeme verwendet; die Flugmethapher. Dabei bleibt der Nutzer auf der Stelle stehen, dreht sich in die gewünschte Bewegungsrichtung, hält die Hand, in welcher sich das Interaktionsgerät befindet in die Zielrichtung und drückt in der Regel einen Knopf, um die Bewegung zu aktivieren. Die Fortbewegung ähnelt einem Flug. Im Fall von Dactyl Nightmare ist die Bewegung auf die horizontale Ebene beschränkt. Es ist also eher ein unselbstständiges Laufen. /6/

Die beschriebenen Systeme haben einen sehr begrenzten realen Aktonsradius des Nutzers gemeinsam. Dieser wird entweder durch die Gegebenheiten in Laborsituationen oder die Konstruktion der Spieleumgebung (siehe Dactyl Nightmare) beschränkt. Desweiteren sind diese sehr stark auf bekannte Architekturabstraktionen festgelegt. Alle Aktionen gehen von einem vorhandenen Fußboden aus. Der Aktionraum beschränkt sich auf den Bewegungsradius des menschlichen Körpers. Damit entsprechen die Orientierungsvorgänge weitestgehend denen, in der Realwelt.

Turn Your World

"Denn Design hat es längst nicht mehr nur mit Gegenständlichem, sondern immer mehr mit Medialem, also mit der Welt technischer Kommunikation zu tun. Gerade auch für Designer gilt: der Weg führt weg von der Hardware, hin zur Software."
[BOLZ1]

Die Gestalter von Hypermedia-Systemen werden sich wie Filmregisseure auf Storyboards stützen. Hier geht die Gestaltung der Benutzeroberfläche in Softwaredesign über. Das Schlüsselproblem von Hypermedien liegt also nicht auf der Ebene der Hardware. Es liegt aber auch nicht auf der Ebene der klassischen Programmierung. Mit anderen Worten: Hypermedien werden weniger programmiert als vielmehr designt. Es geht um die Kunst des Konzeptuellen.
[BOLZ2]

Turn Your World benutzt eine Hardware zur Eingabe. Die Entscheidung über die Anwendung dieser sowie die Feststellung über Erfolg oder Mißerfolg der Aktionen findet in der virtuellen Umgebung statt. Während der Benutzung ist die Hardware zudem nicht sichtbar. Diese Ausgangsbedingungen waren ausschlaggebend für die Verteilung des Arbeitsaufwands.

Nutzungsspezifikation

Turn Your World kann als Interface in Verbindung mit VR-Systemen benutzt werden, die eine freie Bewegung des Nutzers von mindestend 4x4 Metern Grundfläche ermöglichen. Die Arbeit verliert dann ihren Sinn, wenn die Möglichkeit besteht, Head-Mounted-Displays ohne Kabel zu benutzen. Damit ist auch der zeitliche Rahmen für TYW spezifiziert. /7/

Interaktion

Ist im Folgenden von virtueller Umgebung die Rede, so beziehe ich mich auf die vorliegende Internetvisualisierung, welche für die Tests von TYW benutzt wurde.
Der Nutzer "betritt" die virtuelle Umgebung durch Anlegen des HMD, der Steuerung für TYW sowie die Aufnahme des Stylus. In der "realen Welt" befindet sich der Nutzer auf einer Plattform mit 4 Metern Durchmesser. Die Ausdehnung der virtuellen Umgebung beträgt in allen drei Achsen 255 Meter (ein Wert, der sich aus dem zugrundeliegenden Modell der Internetvisualisierung ergibt /8/). Um Orte in dieser Umgebung zu erreichen, die außerhalb des durch die Kabellängen vorgegebenen Radius liegen wurde Turn Your World entwickelt.

Die Vorgehensweise dabei soll von den Abbildungen schematisch erläutert werden. Der Nutzer (grüner Kreis) befindet sich innerhalb des real möglichen Aktionsradius. Das Objekt das erreicht werden soll (rotes Quadrat) befindet sich außerhalb des Aktionsradius des Nutzers (Bild 1). Der Nutzer kann bis an den Rand des Aktionsradius auf das Objekt zugehen (Bild 2). Ist diese Grenze erreicht, wird durch Betätigen des Knopfes an der externen Hardware Turn Your World ausgelöst. Das bewirkt, daß das aktuelle Blickfeld des Nutzers während der folgenden Bewegungen "festgehalten" wird. Der Nutzer kann also die komplette virtuelle Umgebung in den real erreichbaren Aktionsradius hineindrehen (Bild 3). Turn Your World wird durch erneutes Drücken des Knopfes beendet. Der Nutzer kann dann wieder ganz normal auf das Objekt zulaufen (Bild 4). Je nach Abstand des Nutzers vom Objekt muß diese Prozedur mehrmals wiederholt werden.

Hardwarekonzept

Als externes Interaktionsgerät wurde eine Manschette entwickelt, auf die ein Schalter aufgebracht wurde. Die vorgelegte Anordnung befindet sich im Experimentalstadium. Die Manschette kann an verschiedenen Stellen des Körpers des Nutzers angebracht werden (Arme, Beine). Ausgehend von der Idee, daß eine Steuerung der Navigation in der virtuellen Umgebung die eigentliche Interaktion im Raum nicht belasten soll (Skizzieren mit dem Stylus - siehe voxDesign, planeDesign /9/) wurde von einer Doppelbelegung des Hauptinteraktionsgerätes (Stylus) abgesehen. In Dauerversuchen bei der Arbeit mit diesem Navigationsinterface muß ermittelt werden, welche Körperteile für eine Anbringung der Hardware bevorzugt sind. Sollten sich hier Gemeinsamkeiten bei verschiedenen Nutzern herausbilden, bzw. die Position des Interaktionsgerätes eine untergeordnete Rolle spielen, ist die Entwicklung von speziellen Geräten sinnvoll. Da in der VR meist mehrere, verschieden wichtige Interaktionen stattfinden sollen, wäre auch eine Verwendung für andere Anwendungen denkbar.

Technische Anbindung

Problematisch bei der Umsetzung der Idee war die Datenübertragnung vom Eingabegerät zum Rechner. Über die zwei Microtaster, die vom Nutzer während des Aufenthalts in der virtuellen Umgebung bedient werden, wird deshalb ein ferngesteuerter "Finger" gesteuert, welcher eine Taste der Rechner-Tastatur drückt. Diese Eingabe kann vom Rechner ausgewertet werden und damit Turn Your World auslösen oder beenden. Bei einer Weiterentwicklung solcher Interaktionsgeräte ist eine Datenübertragung über die serielle Schnittstelle des Rechners sinnvoller, da einerseits Probleme mit der Mechanik des "Tastaturfingers" wegfallen und die Datenübertragung sicherer verläuft. Diese Anbindung muß jedoch in das Softwarekonzept eingebettet sein, und stellte für die vorliegende Testumgebung einen zu hohen Entwicklungsaufwand dar.

Anwendung und Probleme

Der Leser wird sich vorstellen können, wie aufreibend es ist, ein Objekt in 200 Metern Entfernung erreichen zu wollen und dafür fünfzig mal vier Meter im "Zickzack" hin und her laufen zu müssen. Er wird Navigationsformen wie das Fliegen oder Fließbänder bevorzugen wollen.
Zugegebenermaßen scheint der gewählte Ansatz etwas kompliziert. Andererseits - so mein Ansatz für Turn Your World - bedeutet diese Art der Fortbewegung durch eine virtuelle Welt ein hohes Maß an Kontrolle &uum;ber den eigenen Körper und Handlungen in dieser Welt. Prozesse, die in unserer bekannten Welt ablaufen ("Zum Kino geht es 200 Meter geradeaus und dann die zweite rechts") sind mit Turn Your World besser nachvollziehbar als in einem Flug, welcher die zurückgelegte Entfernung nicht spürbar werden läßt.

Mit der Entwicklung und dem Bau virtueller Welten betreten wir technologisches und auch räumliches Neuland. Meiner Meinung nachliegt es näher, dieses zuerst mit dem eigenen Körper zu erlaufen/erleben als, sich von Anbeginn abstrakter Hilfsmittel zu bedienen.

Zusammenfassung

Turn Your World ist ein Ansatz neue Räume in der virtuellen Realität zu erobern. Die soll durch unmittelbare Rückkopplungen zwischen dem was man tut und den Erfahrungen am Körper passieren. Turn Your World begann als Hardware-Projekt mit der Idee Hilfsmittel für die Unterstützung von VR-Interfaces bereitzustellen. Mit der Arbeit trat die Hardware immer mehr in den Hintergrund. Obwohl (noch) ein Gerät benötigt wird, um bestimmte Manipulationen in der VR durchzuführen, braucht es ganz andere Eigenschaften, als etwa ein Bedienfeld welches wir in unserer Wirklichkeit benutzen. Die Optik tritt zurü:ck, dagegen spielen Probleme, wie Paßform oder "blinde" Handhabbarkeit eine größere Rolle.




Anhang

Arbeitsmappe

Impressionen/Snapshots von TurnIt

Arbeitspapiere zum Projekt: Konspekte anderer Papiere: Bilder:

Software

Die Software wurde programmiert von Holger Regenbrecht und Jan Springer. TurnIt läuft unter Irix 5.3 mit Iris GL als Grafikbibliothek. Nach der Fertigstellung des groben Programmrahmens konnte ich allerdings nach einigen Einführungen in C die Tests für die Visualisierung des Internet selbst programmieren. -- Vielen Dank für die Unterstützung.




Quellen

Zitate:
[BOLZ1] Norbert Bolz, Tele! Polis! - Das Designproblem des 21.Jahrhunderts in http://www.lrz-muenchen.de/MLM/telepolis/deutsch/thinktank/bolz.htm
[BOLZ2] Norbert Bolz, das kontrollierte Chaos, ECON 1994, S.129

Fußnoten:
/1/ Platform und voxDesign entstanden im Rahmen des Projektes "Käfig und Interface" im Sommersemster 1995
/2/ Ich beziehe mich hierbei auf z.Zt. gebrächliche CAD Programme. Neuere 3D-Anwendungen am Monitor insb. Spiele benutzen immer häufiger 3D-Interaktionsgeräte
/3/ 6DOF (six degrees of freedom) Eingabegeräte sind Geräte bei denen sechs Freiheitsgrade über den Computer erfaßt werden. Neben den drei orthogonalen Achsen y,x,z kommen noch die Werte pitch, roll und yaw (Winkellage) hinzu.
/4/ Das Polhemus FasTrak-System ist ein magnetisches Tracking- (Positionsermittlungs-) system. Durch eine Magnetpulenanordnung wird in einem Bereich von bis zu 10 Metern ein Magnetfeld erzeugt. Spulen am HMD und anderen Interaktionsgeräten stören dieses Feld. Eine Steuereinheit berechnet anhand der Störung die Position und Winkellage der Geräte im Raum.
/5/ WIM - World in Miniature; Richard Stoakley, Matthew J. Conway, Randy Pausch; University of Virginia, Dept. of Computer Science in SIGGRAPH ´95 course notes #9, 16-1 Richard Stoakley, Matthew J. Conway, Randy Pausch
/6/ Dactyl Nightmare, VR-Spiel
/7/ Beschränkungen des Aktionsradius ergeben sich einerseits durch die Art des verwendeten Trackingsystems und dessen Meßbereich. Desweiteren wird der Aktionsradius durch die Länge der Kabel zum HMD bestimmt. Sollten diese Probleme mit Hilfe von GPS-Systeme und Kabellosen HMDs gelöst werden ergibt sich ein nahezu unbegrenzter Aktionsradius für VR.
/8/ Jeder an das Internet angeschlossene Rechner wird über eine eindeutige Adresse (IP-Adresse) identifiziert. Diese Adresse setzt sich aus vier Komponenten zusammen, die den Ort des Rechners im Netzwerk beschreiben. Jede dieser Komponenten kann Werte von 0 bis 255 annehmen. Den drei Achsen des Koordinatensystems wurden für das Beispiel drei Komponenten dieser Internetadresse zugeordnet - 255 Adressen wurden im Beispiel auf 255 Metern angeordnet. Damit ist jeder eingetragene Rechner in einem dreidimensionalen Raum genau lokalisierbar.
/9/ voxDesign und planeDesign sind Skizzierprogramme, die einem Nutzer das Erstellen von dreidimensionalen Skizzen in der VR ermöglichen. Interaktionen in der VR (Menüaufruf, Farbwechsel, Löschen, etc.) werden dabei mit dem Stylus ausgeführt.






Literatur: